Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
О книге

Александр Викторович Иличевский – современный русский писатель и поэт, обладатель многочисленных литературных наград. В 2007 году его роман «Матисс» был удостоен премии «Русский Букер» и снискал высокую оценку как жюри конкурса, так и читателей.

Роман повествует о нелегкой судьбе людей, по разным причинам оказавшихся в сложных жизненных обстоятельствах и пытающихся найти свой путь в водовороте событий 90-х годов XX века в России. Главными героями романа являются бродяги и присоединившийся к ним бывший аспирант-физик по фамилии Королёв. Вместе они отправляются в путешествие по просторам страны в поисках того, чего не хватает в повседневной жизни, бегут от обыденности и несвободы.

Читателю предоставляется возможность познакомиться с произведением современной русской литературы в переводе на немецкий язык. Издание снабжено комментариями и словарем. Книга адресована широкому кругу лиц, владеющих немецким языком на среднем и продвинутом уровнях.

Книга издана в 2019 году.

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Translated into German by Valerie Engler and Friederike Meltendorf

© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018.

All rights reseved.

© КАРО, 2019

Presnja[1]

I

»Na los! Schlag zu, gib’s mir! Ja genau, schlag mich!« Wadja war durch seinen Ausbruch ins Rutschen gekommen, er riss sich die Pelzjacke weiter auf, zerfetzte sich das Hemd über der Brust, Tränen flossen, sachte schob er Nadja von sich, die ihn zurückhielt, damit er den Jungs nicht noch unüberlegt hinterherrannte.

Sie waren zu viert, Straßenkinder, doch weil sie Wadjas Stolz in Gegenwart einer Dame[2] verletzt hatten, hatte er sie schlichtweg herausfordern müssen. Im Licht der Straßenlaternen liefen sie an diesem frühen Winterabend bei Tauwetter schnell die Malaja Grusinskaja hinunter, ruderten und rutschten durch den frischen Schnee, schauten sich immer wieder provozierend um, der Älteste, größer und frecher als die Übrigen, reizte Wadja immer mehr:

»Komm doch, du Affe! Versuch doch, uns einzuholen. Wir machen dich platt[3] – das vergisste so schnell nicht!«

Dem Jüngsten, er war vielleicht zehn, war der Ausdruck von Vertrauensseligkeit noch nicht aus dem Gesicht gewichen. Er ging ein Stück, verfiel in Trab, ging wieder, blickte umher. Da fesselte ihn der Anblick des schneebedeckten, raffiniert beleuchteten Timirjasew-Museums, das durch seinen Kaufmanns- oder gar Bojarenstil an Bilder aus Märchenbüchern erinnerte. Doch als der Junge sah, dass die anderen schon weit weg waren, nahm er eine Handvoll Schnee von der Balustrade, formte einen Ball, klopfte ihn fest, biss hinein, holte weit aus, zielte auf Wadja, warf und rannte dann schleunigst seinen Kumpels hinterher.

Wadja wollte ausweichen und kippte nach hinten, Nadja hatte ihn gehalten und knöpfte ihm nun die Pelzjacke zu, schaufelte den Schnee aus seinem Ausschnitt, klopfte Bart und Kragen ab, er heulte, und Nadja freute sich, dass die Straßenkinder endlich von ihnen abgelassen hatten und sie keine Angst mehr haben musste, dass sie Wadja verdroschen[4].

Leonid Koroljow*, ein Mann von etwa fünfunddreißig, Warenkoordinator eines Kleinhandelsunternehmens, der im Stau Richtung Krasnaja Presnja* kroch und die Szene schon ab der katholischen Kirche beobachtet hatte, wusste, dass sich Obdachlose und Straßenkinder bereits seit mehreren Wintern bekriegten. Dass die Jugendlichen, in Grüppchen zusammengeschlossen, zur Abschreckung manchmal Obdachlose töteten und so die Lebensräume im Untergrund von Konkurrenz befreiten: die Gleistunnel der Bahnhöfe, die Nischen unter den Brücken, die trockenen Kanalisationsschächte, die warmen Keller, die Müllhalden, die Bettelposten. Dass ihre Grausamkeit im Rudel kein Erbarmen kannte. Dass die Obdachlosen wegen ihres ausgeprägten Geizes zu gemeinschaftlichem Handeln nicht fähig und deshalb ihren größten Feinden gegenüber machtlos waren.

Koroljow befand sich schon kurz vor der Abzweigung zu seinem Haus. Die Straße war von einer seelenlosen Masse von Autos in Beschlag genommen[5]. Sie röhrten mit durchgebrannten Auspuffrohren, pfiffen mit erschlafften Keilriemen, schnurrten mit teuren Motoren, klackerten mit Spikereifen, wummerten mit den Bässen ihrer Anlagen, scherten immer mal auf die Gegenfahrbahn aus und plärrten, rülpsten, jaulten mit ihren Alarmsirenen. Die Autos verhüllten die Gerinnsel menschlicher Müdigkeit, Blasiertheit, Gehässigkeit, Unbedachtheit, Gleichgültigkeit, Versunkenheit …

Der Stau war eine Naturkatastrophe. Der Schnee fiel mal in dichten Flocken, einen Augenblick später hörte er auf, und man schaltete die Scheibenwischer aus, nur um sie im nächsten Moment wieder einzuschalten. Das Auto schubste ein dampfendes Schneekissen von der Kühlerhaube, kroch vorwärts, drehte auf der Stelle, wühlte im Matsch, riss sich plötzlich los, er bremste ab und schloss zu der langgezogenen Ziehharmonika aus Autos auf, die durch das aufleuchtende Rot an der Krasnaja Presnja erneut gestoppt wurde. Koroljow war mittlerweile weder in der Lage, Radio zu hören noch emotional am Straßenverkehr teilzunehmen.

Schneeflocken blieben an der Windschutzscheibe kleben, sackten zusammen, rutschten ab, wurden durchsichtig, flossen davon. Beim ersten Aufprall auf das Glas blitzte die polygonale Struktur der Flocken kurz auf, makellos streng und rein, herangeweht aus schauriger Höhe. Sie hob ihn über die Stadt, über die von stählernem Licht durchfluteten Straßen, über den schwarzen Rücken des Flusses und die Sehnen der breiten Prospekte, über Hochhäuser und Straßenbuckel, über das Schweigen der flirrenden, tanzenden Stoffbahnen des Schneegestöbers, hinter das Trübe der tief hängenden Wolkenfetzen, dorthin, wo die Sterne funkelten, wo er allmählich der Welt entrückte, immer höher und weiter aufsteigend über die hügelige Kaviarkette aus Stadtlichtern – und dieser Aufstieg war sein tiefer Seufzer.


Koroljow haute den Gang rein und dachte voller Wut, dass das Unbelebte anständiger war als das Menschliche, dass im strengen Aufbau eines winzigen Kristalls mehr Sinn und Schönheit, irgendetwas von Bedeutung steckte, das ihm hätte erklären können, wozu er lebte, als in der Unmasse an Menschen, die diese Stadt überfüllten.



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