Die Sonne mußte gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war Viertel vor acht. Ich schloß das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plötzlich hörte ich hinter mir ein heiseres Krächzen. Ich blieb stehen und hörte. Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. Es war die Scheuerfrau Mathilde Stoß. Sie trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln. Sie wog neunzig Kilo. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, dabei sang sie ein Lied.
Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. Am Abend vorher war sie voll gewesen. Ich hatte vergessen, sie einzuschließen.
»Aber Frau Stoß«, sagte ich.
Der Besen fiel zu Boden.
»Jesus Christus«, sagte Mathilde und starrte mich aus roten Augen an. »Ihnen hab‘ ich noch nich erwartet…«
»Kann ich verstehen. Hat‘s geschmeckt?«
»Das ja – aber‘s is mir peinlich.«
Ihr Schnurrbart zuckte, und ihre Augenlider klapperten wie bei einem alten Uhu. Aber allmählich gelang es ihr, klarer zu werden. Entschlossen trat sie einen Schritt vor.
»Herr Lohkamp, Mensch ist nur Mensch, erst habeich einen Schluck genommen und dann…«
Es war nicht das erstemal, daß ich sie so traf. Sie kam jeden Morgen zwei Stunden zum Aufräumen in die Werkstatt, und man konnte ruhig so viel Geld liegen lassen, wie man wollte, sie nimmt es nicht – aber hinter Schnaps war sie wie die Ratte hinterm Speck[1]. Ich nahm die Flasche hoch.
»Natürlich, den Kognak für die Kunden haben Sie nicht angerührt – aber den guten von Herrn Köster haben Sie weggeputzt.«
»Aber werden Sie mir verraten, Herr Lohkamp? Eine schutzlose Witwe?« Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht.«
»Trinken Sie das Glas mal aus!«
»Ich? Herr Lohkamp, das ist zuviel! Sie sind ein Heiliger, sind Sie! Man muß das Gute nehmen, wie es kommt. Auch wenn man‘s nicht versteht. Zum Wohle! Haben Sie vielleicht Geburtstag?«
»Ja, Mathilde.«
»Was?« Sie nahm meine Hand und schüttelte sie. »Herzlichsten Glückwunsch! Herr Lohkamp« – sie wischte sich den Mund –, »Ich habe Sie gern wie einen Sohn.«
»Schön.« Sie trank noch ein Glas verließ die Werkstatt.
Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte. Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. Und dann… Ich zog einen Brief und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule – das war irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines Unteroffiziers Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie mußte über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Ranzen nicht richtig gepackt gehabt und mußte zur Strafe die Toilette putzen. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, daß ich einschlief, als sie noch bei mir saß.
1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Morgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends kam Gas. Wir hatten die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht.
1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wußte es noch nicht. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. 1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. 1920. Putsch. Karl Bröger erschossen. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium. 1921 –Ich wußte es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation.
Und dann? Die Jahre darauf? Ich wußte es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Auto-Reparatur-Werkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeitlang Student, dann Rennfahrer – und schließlich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz dazugekommen , dann ich.